Die Spannung ist gelöst. Der Kaiser hat abgedankt. Die Parteien der Mehrheit, auch die Sozialdemokratie, haben lange gezögert, dies zu fordern. Man erwartete, auch in der Volkspartei, daß er Verzicht freiwillig und rechtzeitig erfolgen werde. Man hielt sich, was auch für die Neue Badische Landeszeitung gilt, zurück, um einen würdigen Abschluß durch freien Entschluß zu ermöglichen. Nachdem aber die große Mehrheit des Volkes, nicht nur die Massen, sondern auch weite Kreise des Bürgertums die Notwendigkeit der Abdankung erkannt hatten, nachdem auch das Zentrum soeben dasselbe verlangt hatte, war eine Forderung aufgestellt, der sich der Kaiser nicht mehr entziehen konnte, wenn er nicht entschlossen war, der Forderung mit der Diktatur zu begegnen. Das wäre eine Unglück für das Vaterland gewesen, denn ihre Folge hätte der offene Bürgerkrieg im Lande sein müssen.

Nun ist die Entscheidung gefallen. Die Abdankung ist Tatsache. Was notwendig war, ist geschehen. Jetzt darf man hoffen, daß sich die weitere Bewegung zur Aufrichtung des Volksstaates in Ruhe und Ordnung vollzieht. Die Leitung der Massen hat die feste Absicht, keine Anarchie einreißen zu lassen. Es muß die Einigkeit uznd Geschlossenheit des Landes erhalten, es muß vor allem die Ernährung gesichert bleiben. Jeder von uns hat die Pflicht, den Übergang in die neue Zeit durch besonnenes Verhalten erleichtern zu helfen.

Wilhelm II. hat dem Thron entsagt, mit ihm der Kronprinz. Die Politik der Vergangenheit ist damit zum Abschluß gebracht. Eine neue Zeit ist angebrochen, in welcher die Repräsentanten der alten Zeit keinen Platz haben konnten.

Das deutsche Volk hat sein volles Selbstbestimmungrecht erhalten. Wir begrüßen mit großer Freude die Ankündigung des gegenwärtigen Reichskanzlers, der noch zur Überleitung der Geschäfte in die neuen Formen staatlichen Lebens im Amt bleibt, daß sofort eine allgemeine deutsche Nationalversammlung in allgemeinen Wahlen gewählt werden soll, welche die künftige Verfassung des Deutschen Reiches, die vielleicht auch für Deutsch-Österreich gelten wird, zu beschließen hat. Wahrscheinlich wird an die Spitze der neuen Reichsregierung der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei, der Abg. Ebert, treten. Die Masse des Volkes hätte damit die Regierung in der Hand. Das ist in der gegenwärtigen Lage das Gegebene.

Wir dürfen annehmen, daß der Waffenstillstand in kurzer Zeit abgeschlossen sein wird. Der Friede steht dann in baldiger Aussicht.

Welche Regierung und welche Staatsform das neue Deutschland auch immer haben wird, wir sind gewiß, daß das deutsche Volk nicht vernichtet werden und nicht untergehen kann, wenn es die hohe politische Reife beweist, die es in dieser großen Stunde zeigen muß. Wir bekennen und hoffnungsvoll zu dem Worte unseres deutschen Dichters der Freiheit: das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.

Es lebe Deutschland.

A.S.

Neue Badische Landeszeitung, Samstag, 9. November 1918, Abend-Ausgabe

 

 

Die Abdankung des Kaisers

9.11.1918

Neue Badische Landeszeitung, Samstag, 9. November 1918, Abend-Ausgabe

Stadtarchiv Mannheim


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